Fortschrittsgedanken: Prof. Anja Lüthy

Fortschrittsgedanken: Prof. Anja Lüthy


Zum Format:

"Fortschrittsgedanken" erschien wöchentlich auf dem FAIR.nrw Blog in 2020 und stellt die Meinung verschiedener Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis zu immer gleichbleibenden Fragen dar. Dabei geht es primär um das Thema Algorithmen in der Personalauswahl.

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Zur Autorin:
Anja Lüthy ist Diplom-Psychologin und -Kauffrau, sowie Professorin für die Schwerpunkte Dienstleistungsmanagement und -marketing im Fachbereich Wirtschaft der Technischen Hochschule Brandenburg. Nebenberuflich ist sie Speakerin, Trainerin und Coach in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Ihre Schwerpunkte liegen dabei im Employer Branding, Recruiting, Personalmarketing in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens.

Welche Chancen bieten Algorithmen in der Personalauswahl und wo liegen Risiken?
Ich bin davon überzeugt, dass die Bedeutung von KI – Software - Lösungen in den kommenden Jahren massiv steigen und sie immer häufiger zur Personalauswahl eingesetzt werden. Zunächst wahrscheinlich nur in Form von Chatbots auf Karrierewebseiten, die die ersten Fragen von Bewerbern zum Unternehmen beantworten. Betriebe aller Branchen werden aber langfristig durch KI - Recruiting eine Menge Zeit und Geld einsparen. Der Recruitingprozess wird durch die „Automatisierung“ effizienter und rascher.

Anwendungen auf Basis von Künstlicher Intelligenz bieten die Chance, durch Daten zu lernen und deshalb im Laufe der Zeit immer bessere Prognosen abzugeben. Ein gut programmierter Algorithmus ist viel neutraler in der Bewertung und konstanter in der Leistung als ein Mensch, der unbewusste Voreingenommenheit mitbringt, den sogenannten „unconscious bias“. Dies stellt für Bewerber einen erheblichen Mehrwert dar.

Zukünftige Leistungen eines Bewerbers aber AUSSCHLIESSLICH über KI – gesteuertes Checken von Lebensläufen bzw. Online - Tests / Online- Assessements oder nur über Interviews, die mit Chatbots geführt werden, vorherzusagen, halte ich für gefährlich. Auch KI – Algorithmen können – da von Menschen programmiert – vorurteilsbasiert sein und sich bei der Auswahl desjenigen, der am besten auf die zu besetzende Stelle passt, irren. Vor zwei Jahren hat „der Fall Amazon“ belegt, dass Frauen bei der Auswahl mithilfe des damals verwendeten Algorithmus systematisch benachteiligt wurden (vgl. https://www.zeit.de/arbeit/2018-10/bewerbungsroboter-kuenstliche-intelligenz-amazon-frauen-diskriminierung).

Welchen Einfluss hat Diskriminierung in der Personalauswahl?
Natürlich spielt Diskriminierung leider immer noch eine große Rolle bei der Personalauswahl. Studienergebnisse belegen, dass alleine der Vor– und der Zuname eines Bewerbers darüber entscheiden können, ob der Kandidat überhaupt am Bewerbungsprozess teilnehmen darf. So haben die Ergebnisse einer Studie von Doris Weichselbaumer der Johannes Kepler University Linz im Jahr 2016 belegt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird, davon abhängig ist, welchen Namen er/sie hat und ob er/sie auf dem Bewerbungsfoto ein Kopftuch trägt. Die Biografie/der Lebenslauf der Bewerber/innen war immer dieselbe (vgl. http://ftp.iza.org/dp10217.pdf). 

Können Algorithmen dabei helfen Diskriminierung in der Personalauswahl abzubauen?
Ja, Algorithmen können sicherlich - sofern sie vorurteilsfrei und nicht diskriminierend programmiert worden sind - dabei helfen, Diskriminierung in der Personalauswahl abzubauen. Der bekannte „Halo Effekt“, d.h. die subjektive Einschätzung von Bewerbern aufgrund äußerer Merkmale, wird über objektive, reliabel und valide KI - Algorithmen minimiert.

Mit mehr Automatisierung in Auswahlprozessen kann das Recruiting aber auch im Sinne eines humanen „Human Ressource Management“ angenehmer gestaltet werden, wenn Recruiter sich mehr Zeit für persönliche Gespräche mit Bewerbern nehmen können, weil ihnen KI gestützte Tools (z.B. ein Chatbot oder Online- Assessments) im Vorfeld eignungsdiagnostische Arbeit abgenommen hat.

Ganz konkret: Wie sieht der ideale Prozess für die Personalauswahl aus? 
Die Corona-Krise führte dazu, dass sich ein mobiler und digitaler Recruitingprozess immer weiter durchsetzt. Die sogenannte „Candidate Journey“ von Bewerbern ist tatsächlich zu 90% digitalisierbar. Nur ganz am Ende des Bewerbungsprozesses steht natürlich immer noch eine intensive persönliche Begegnung, die in Zeiten von vorgegebenen Kontaktbeschränkungen notfalls sicherlich auch via Videokonferenz erfolgen kann.

Von der Ausschreibung der Stelle bis zur Auswahl eines Kandidaten können heute schon sehr viele „Teilschritte“ digital und eignungsdiagnostisch professionell erfolgen: Stellensuchende wollen zunächst auf ansprechende und informative Karriereseiten stoßen. Dort wollen sie bereits die Möglichkeit vorfinden, einem Chatbot erste Fragen zum Verdienst und zum Bewerbungsprozess zu stellen. Bewerber wollen sich rasch und mit wenigen Klicks über ihr Smartphone direkt bewerben, sei es via Whatsapp (als Text- oder Sprachnachricht), mit einem 90 - Sekunden Selfie-Videoclip oder mit Hilfe eines Online Formulars. Eine sehr rasche und freundliche automatisierte Eingangsbestätigung zu ihrer Bewerbung schätzen Stellensuchende sehr.

KI - unterstütze Selbsttests auf den Karrierewebseiten (sogenannte Kulturmatcher - Tests zur Messung des „Cultural Fit“) können Bewerbern individuell dabei helfen, ohne großen Aufwand zu überprüfen, ob die Kultur des Unternehmens überhaupt zu ihm /zu ihr passt.

Bewerber müssen nicht mehr persönlich zu Eignungstests vor Ort erscheinen. Gerade bei der Auswahl von Azubis sind KI - unterstütze Online-Assessment-Center mit Unterhaltungsfaktor im Sinne eines „Recruitainment“ sehr beliebt Vorstellungsgespräche über ein digitales Videokonferenzsystem sollten „normal“ sein.

Am Ende eines idealen Personalauswahlprozesses steht die Entscheidung zur Eignung eines Bewerbers für die zu besetzende Stelle. Sie muss im Team gemeinsam gefällt werden. Abstimmungen, an denen Teams beteiligt sind, sind digital viel leichter zu organisieren, wenn alle Entscheider jederzeit und überall digitalen Zugriff auf sämtliche (mithilfe von KI ausgewerteten) Bewerberdaten haben.

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